Beihilfenrecht bricht Rechtskraft nationaler Urteile

Die effektive Durchsetzung des EU-Beihilfenrechts darf auch durch ein nationales, rechtskräftiges Gerichtsurteil nicht ausgehebelt werden. Das hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in seinem Urteil vom 11. November 2015 (C-505/14) entschieden. Der Grundsatz gilt zumindest für Fälle, in denen die materielle Rechtskraft gemäß § 322 ZPO eines Urteils ein nationales Gericht daran hindert, sämtliche Konsequenzen aus dem EU-Beihilfenverbot zu ziehen, nur weil in einer unanfechtbar gewordenen Entscheidung eines anderen Gerichts ohne Prüfung des EU-Beihilfenrechts, die Wirksamkeit eines an sich beihilfenrechtswidrigen Vertrages festgestellt wurde.

Dem Rechtsstreit lag die Klage eines Unternehmens zugrunde, welches mit dem Land Nordrhein-Westfalen (NRW) einen „Rahmenkaufvertrag“ über Holzlieferungen zu bestimmten Konditionen geschlossen hatte. Nachdem das Unternehmen in wirtschaftliche Schwierigkeiten und damit verbunden in Zahlungsverzug  geriet, kündigte das Land NRW den Vertrag. In dem folgenden Rechtsstreit stellt das Landgericht Münster im Rahmen einer Feststellungsklage fest, dass die streitige Rahmenkaufverträge fortbestünden. Das Urteil wurde vom OLG Hamm als Berufungsgericht bestätigt und wurde somit gemäß § 322 ZPO rechtskräftig.

In einem weiteren Verfahren klagte das Unternehmen darauf hin gegen das Land NRW auf Schadenersatz und Vertragserfüllung. In diesem Rechtsstreit machte das Land NRW erstmalig die Beihilfenrechtswidrigkeit der Rahmenkaufverträge geltend. Das LG Münster kam zu dem Ergebnis, dass tatsächlich mehrere Klauseln der Rahmenkaufverträge staatliche Beihilfen darstellten. Diese Beihilfen seien unter Verstoß gegen Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV durchgeführt worden. Nach der Rechtsprechung des BGH ist ein privatrechtlicher Vertrag, mit dem eine verbotene Beihilfe gewährt wird, jedoch gemäß § 134 BGB nichtig.

Deshalb legte das LG Münster dem EuGH die Frage vor, ob das Europäische Beihilfenrecht in einem Zivilrechtsstreit über die Vollziehung eines zivilrechtlichen Vertrags, der Beihilfen enthält, eine Außerachtlassung eines in derselben Sache ergangenen rechtskräftigen Feststellungsurteils verlange, welches den Vertrag ohne Auseinandersetzung mit dem EU-Beihilfenrecht bestätigt, wenn wegen des nationalen Grundsatzes der materiellen Rechtskraft die Vollziehung des beihilferechtswidrigen Vertrags nicht anders abgewendet werden könne.

Diese Frage hat der EuGH jetzt ohne Einschränkung bejaht und damit klargestellt, dass eine Behinderung der effektiven Anwendung des Unionsrechts – und insbesondere der EU-beihilfenrechtlichen Bestimmungen – auch durch den Grundsatz der materiellen Rechtskraft nicht angemessen gerechtfertigt werden kann.

Insoweit liegt jetzt ein weiteres richtungsweisendes Urteil im Verhältnis der Anwendung von EU-Beihilfenrecht und nationalem Recht vor.

Das beihilfenrechtliche Durchführungsverbot in Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV kann demnach selbst den auf dem allg. Rechtsstaatsprinzip beruhenden Grundsatz der materiellen Rechtskraft von Gerichtsurteilen (und damit der Rechtssicherheit) Grenzen setzen. Damit hat das Urteil auch über den Einzelfall hinaus Bedeutung.

Dr. Jan Deuster